ARBEIT (2): Arbeiter (m, d, w)
07.07. 2025 ca. 9 min. Lesezeit
Ein höchst komplexes Thema, zu dem zu allererst so etwas wie ein Zugang gelegt werden muss. Die später noch separat zu betrachtenden flankierenden Themen im Konnex mit ARBEIT: „Selbstwert und Mehrwert“ und „Würde und Anerkennung“ vermögen da etwas mehr Licht am Anfang des gekurvten Tunnels durchscheinen zu lassen. Zumal im zeitlichen Rahmen, ausgehend vom Ende des zweiten Weltkriegs bis heute mit dem entscheidenden Moment des „Systemgewinns des Kapitalismus“ gegenüber (Sowjet-) Sozialismus und / oder -Kommunismus Ende der 1980er / Anfang der 1990er Jahre dann Fragen aufkommen wie:
Arbeiter (m, d, w) – (in-)dividuelle Fragen
Oder: In ihrer und unserer „bedingt unteilbaren Vielfachunterteiltheit“ nach Michaela Ott
unvermeidliche, aber so öffentlich nicht artikulierte Fragen.
Jenseits der reinen kapitalistischen Akkumulation, deren Ausmaß, also die Antwort auf die Frage: „Wieviel verdient der einzelne Arbeiter?“ per se standortbedingt bewertet wird, tauchen irgendwann zumal in Zeiten von Stagnation, Inflation und Krisen auch zwangsläufig die Fragen von Seiten des Arbeiters auf:
Zumal, wenn das Ganze scheinbar endlos so weiter gehen soll und in allgemeiner Lethargie gefangen „Mut machen“ und „Auswege aufzeigen“ scheinbar schon so etwas wie subversive Akte sind?
Arbeiterinnen (w, d, m) – und Arbeiter (m, d, w):
Gemeinsame Unsichtbarkeiten?
Der 1942 bei Parma geborenen italienisch-amerikanischen politischen Philosophin und feministischen Aktivistin Silvia Federici wird beim „Sichtbarmachen von Care- / Sorgearbeit im Rahmen einer Theorie von Geschlecht, Arbeit und Familie“ von Xenia Müller eine prägende Rolle zugeschrieben.
Sichtbarkeit hat etwas mit Beachtung, mit Anerkennung und in diesem Zusammenhang auch mit Würdigung zu tun. Auch wenn es sich allzu häufig nur um den Akt des „eines Blickes würdigen“ handelt. Unsichtbarkeit wiederum kann zudem zu mangelnder oder gar nicht vorhandener Beachtung und Anerkennung bis hin zur mehr oder weniger bewusst, also aktiv gesteuerten Verdrängung oder gar Verleugnung von Menschen und Dingen führen.
Im Verlauf der Globalisierung verdrängt die Schattenwelt der Konkurrenz immer mehr Produktionsprozesse in den Hintergrund. Und mit ihnen alle Schritte der Fertigung und der Zusammenarbeit. In globalen Preiskämpfen scheint das Verschwinden der Produktionsphasen von Gütern aller Arten und ihrer manuell und geistig Beteiligten denn auch ein wesentliches (System-) Ziel. Man – also global agierende Konzerne und ihre CEOs finden immer günstiger produzierende Standorte und können ihre Produkte damit preiswerter anbieten und gleichzeitig größere Gewinne verbuchen. So scheint es. Das Unsichtbar-Machen von Arbeitern (m, d, w) und Arbeiterinnen (w, d, m) und ihrer Ansprüche in diesen „globalisierten Preiskämpfen“ wird systemimmanent. Das Verschwinden des / der einzelnen im Produktionsprozess als „Endziel der globalisierten Arbeitsteilung“? Mit dem die Unternehmensgewinne und deren Niederschlag im jeweiligen nationalen BIP darstellenden CEO als einzig (medial) sichtbarem Akteur? Kaufen und Gekauft-werden als einziger (System-) und Lebenszweck?
Um dem etwas näher zu kommen, sollte man einmal die Entwicklung von
Kern- oder Schlüsselindustrien eingehender betrachten. Hier exemplarisch die Stahlindustrie:
In der Grafik vom schwedischen Königlichen Institut für Technologie wird die anfänglich beherrschende Rolle von „Schwedenstahl“ im 17. und 18. Jahrhundert deutlich. Ende des 18. Jahrhunderts dann und mit Beginn des fossilen / Industriezeitalters wird Großbritannien zum Weltmarktführer. Das 20. Jahrhundert ist durch den Aufstieg der US charakterisiert. 1. Weltkrieg, Great Depression und 2. Weltkrieg und der Boom der Nachkriegszeit in den 1950ern bis zum Abstieg in den 1970ern mit der Ölkrise 1973 sind klar ablesbar. Sowjet-Russlands und Japans Weltmarktanteile mit den zeitversetzten Niedergängen in den 1990ern sind gleichfalls signifikant. Chinas Aufstieg von 1949 über Maos Großen Sprung nach vorne und dann Dengs Liberalisierung 1992 zum Boom in den 2000ern und dann nach kurzen Dellen Finanzkrise 2007 / 08 und Start Platzen der chinesischen Immobilienblase 2011 sind da genauso signifikant im stetigen Aufwärtstrend. In Zahlen ausgedrückt stellen sich die Weltmarktanteile der Stahlproduktion so dar:
Die VR China produzierte 1970 noch 18.144 Kilotonnen Stahl. 2023 waren es dann 1.019.100 x 1000t., ein Zuwachs mit Faktor 56 in 53 Jahren, also gerade einmal rund 2 Generationen. Auch Indien als zweiter verzeichnet mit 1970 noch 6.276 und 2023 dann 140.200 kt einen Zuwachs mit Faktor 22,5. Die EU wird mit einer Produktion von
192.588 kt Stahl 1970 und 126.300 kt 2023 gleichfalls auf Platz 2 gelistet. Zuwachs oder besser Schrumpfung beträgt 0,66, also eine Differenz von 1/3. Die USA mit Faktor 0,68, also gleichfalls einer Schrumpfung um rund 1/3, Russland dahinter mit Faktor 1,15 zwischen 1970 und 2023, Südkorea mit Faktor 139, Deutschland 0,7, die Türkei 26, Brasilien 5,9 und dann der Iran mit Faktor 31, das UK mit Faktor 0,2 auf Rang 26 vor Bangladesch und Pakistan, die überhaupt erst in den 2020ern als Stahlproduzenten in Erscheinung treten: Stahl und seine Herstellmargen verkörpern viele (in-) dividuelle Schicksale allerorten, seien es „verbrannte Erde“ und (Massen-) Arbeitslosigkeit an aufgegebenen Standorten insbesondere im Westen / Norden, seien es Produktions-, Umwelt- und Arbeitsbedingungen im „globalen Süden“, die eher an Zeiten des „Manchester-Kapitalismus“ erinnern. Und mehr.
Fazit (2)
ARBEIT und ihre Sichtbarkeit, ihre Würdigung und Wertschätzung unterliegt immer der Vielfalt gemein- und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Adom Getachew, Dipesh Chakrabarty, Alice H. Amsden, Amartya Sen, J. Timmons Roberts und A. Bellone Hite, José Antonio Ocampo und Jomo K.S., David Harvey und viele andere fragen letztlich (nicht erst) jüngst auch verstärkt, wie der Übergang von einer unipolaren zu einer multipolaren Welt-(Un-) Ordnung gerecht vonstatten zu gehen vermag. Die Milliarden und mehr Interaktionen und Beziehungen zwischen „Entwicklung“ (frz.: developer), die Bruno Latour ja wiederum als „Einwicklung“ (frz.: enveloper) in seiner Akteur-Netzwerk-Theorie verstanden haben will und „Globalisierung“ verlangen andere Antworten, als den angstbeherrschten „Business as usual“ überforderter (Real-) Politik.
Viele der Kinder von Boomern, Gen X und Y wollen der Unsichtbarkeit des Alltags zwischen Homer Simpsons Job im Atomkraftwerk, Otto und Ottilie Normal, dem deutschen Michel und seiner Michaela und Joe, dem Klempner im Stahlwerk und seiner Josefine mit den Traumjobs Fußballprofi und Influencer*in oder gleich Präsident oder zumindest unkündbarer Chef und die Zahlen bestimmender CEO eines kleinen bis mittelgroßen Betriebes entfliehen.
„Arbeiter und Angestellte, Menschen in Arbeit, Ausländer und von Armut Bedrohte“ etwa waren lange die „Kernwählerschaft“ der Sozialdemokraten in Deutschland. Viele „Ausländer“ sind in dem Land, das sich in allgemein immer wieder Bedarfs-gesteuerter Geschichts-Vergessenheit mit dem Faktum des Einwanderungslandes sehr schwer tut klarer verwurzelt als viele, die sich da „bio-deutsch“ geben. Und viele, die da ursprünglich zur „Kernwählerschaft“ der Sozialdemokratie gehörten, haben irgendwann bemerkt, dass „Bürgergeld“ insbesondere in Folge der Energiekrise nach dem 24.02.2022 ihren Reallohn für ihre Maloche fast übertraf.
Der Arroganz vieler konservativer „Systemgewinner“ in den 1990ern und 2000ern wurde zumeist kaum wirklich entschieden widersprochen. Vielleicht war diese Überheblichkeit vergleichbar mit dem, was John Maynard Keynes als „Arroganz der Sieger“ bei den Friedensverhandlungen von Versailles 1919 in "Die ökonomischen Konsequenzen des Friedens" beschrieb: der Hochmut vor dem Fall aber in welche Untiefen ist das dieses Mal? Und wie können progressive Kräfte dagegen steuern?
Melinda Cooper spricht zwischen neoliberalem und geopolitisch nationalistischem Staatsumbau von vielen kleinen Mosaiksteinen des Widerstandes gegen nationalökonomische Einsparmaßnahmen. Mietstreiks, Schuldenstreiks, aber auch Initiativen für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen und gegen die Verschleppung von Umschuldungen von der öffentlichen in die private Hand von Familien und Menschen unten und außen vor in unseren Gesellschaft(en) sind wichtig. Das Sichtbarmachen der unzählig vielen lange verdrängten und dann verleugneten Folgen der von neoliberalen Staaten vollzogenen Globalisierung ist wichtig. Auch die nationalökonomisch Orthodoxen, die sich „alternativ“ nennen, werden diese und andere Austeritätsmaßnahmen weiter fortführen. Umso wichtiger werden kleine und große Schuldenschnitte, sei es bei der Stromsteuer, sei es beim Mietrecht, sei es anderswo. Umso wichtiger werden neue Erzählungen, die das Bestehende um und weiterbauen und so Verdrängung und Verleugnung von Arbeiterinnen und Arbeitern (m, w, d) und ihrer Leistungen proaktiv bekämpfen. Experimente und Initiativen, die lokal und vor Ort ZUSAMMENARBEIT und ihre Erträge neu aushandeln und ans Werk bringen. Vielleicht, weil der / die Staat(-en) im permanenten Umbau und in der damit zusammenhängenden Umschuldung sich immer mehr wegducken und seine / ihre Gesellschaften so immer mehr alleine lassen? Auf die eine oder andere, nach innen oder außen zunehmend imperial und (subtil) autokratisch wirksame Art?