Alles Wird Gut, wenn alles bleibt wie es ist. Wirklich (?!)
Zumindest zeichnet sich derzeit ab, dass die vielen Dinge, die stetigem Beharrungsvermögen
lange trotzen mussten nun allmählich zerbröseln.
„Welt- und Erklärungsgebäude“ sind erschüttert. In ihren Grundfesten.
„Häuser der Lüge“? 1
Zumindest „Häuser der Teilwahrheiten“. Denn die „Deutungshoheit“ über „Fake News“
und „Anti Fake News“ bestimmen Glaubwürdigkeit und Wahrheitsgehalt von Informationen.
Insofern kann und will man die Meldungen über „unvorhersehbare Koinzidenzen“ gar nicht mehr
im Einzelnen kommentieren. Die verschiedenen „Schlachtfelder“ heißer und kalter wirtschaftlicher
Kriege sollen hier also nur kurz in dieser ihrer Ambivalenz - in ihrer Mehrdeutigkeit beleuchtet werden.
1) Europa: Brexit und Italien (16. Nov. 2018)
Beide ungelöste Problemfelder stoßen nun aufeinander.
„Der Haushaltsstreit zwischen der EU und Italien spitzt sich zu“ 2 und
„Eskalation im Schuldenstreit – Showdown beim Brexit“ 3 verheißen beide,
dass es da aufgrund völlig erstarrter Fronten kaum weitergeht. Im Gegenteil:
da steht nur noch eine dünne, zerschossene Fassade.
Jeremy Corbyns Labour Party verdeutlicht in
„6 Gründen, warum May’s Brexit schlecht ist für Großbritannien“ und was der
„Durchbruch beim Brexit“ mittel- und langfristig bedeutet:
Keiner hat für einen schlechten Brexit-Deal gestimmt.
Das werden wir auch nicht.“ 4
Wird es also bald ein
Misstrauensvotum gegen Theresa May und Neuwahlen im UK geben?
Und was bedeutet das für den Kontinent? Denn: sicher können da nicht dieselben Betonköpfe weiter verhandeln.
Und: was bedeutet das für Italien?
Andreas Hoberg zum UK: „Die Tories haben nur
ein Ziel und das ist, an der Macht zu bleiben;
daher wird ein Misstrauensvotum auch keine Mehrheit gegen May bringen;
letztlich müssen Neuwahlen her und das ist gleichfalls aufgrund des „fixed parliaments“
Gesetz nur über eine 2/3 Mehrheit möglich.“
Claudio Sozzani zu Italien: „Die Bürokraten
werden scheitern. Und die nächsten EU-'Wahlen'
werden ihr Waterloo. Entscheidend: Conte hat sich m.E. im Sommer in Washington Rückendeckung
bei den Amis geholt (im Deal für unbegrenzten Zugang und Ausbau der US-Stützpunkte in ITA).
Ohne Wall Street und FED ist Brüssel ein Papiertiger.“
Spannende Zeiten. Ein
„schlechter Brexit-Deal“ und ein „zahnloser europäischer Papiertiger“
wird auch eine Bewährungsprobe für die Zivilgesellschaften unter der
dünner werdenden „Decke der Zivilisation“. In jedem Falle.
Anmerkungen:
2) Naher Osten: endlose Kriege? (19. Nov. 2018)
In „Krieg und Fernsehen“ bezeichnet der als Kind die Angriffe alliierter Bomber auf das
von den Nazis besetzte Nantes erlebende Paul Virilio den ersten Golfkrieg 1991 als „3. Weltkrieg im Kleinen“.
„Die Botschaft
dieses Medienkrieges besteht weniger in der Information über die Realität der gegenwärtig
stattfindenden Kämpfe als vielmehr in der Förderung der Möglichkeit zukünftiger Kriege.“ 5
Auch mit „minutiös geplanten, chirurgisch exakt
durchgeführten Präzisionsschlägen“
begonnene Kriege enden in Gemetzeln, in denen in erster Linie Zivilisten –
Menschen wie Du und ich sterben.
„Raqqa nach ISIS: Massengräber offenbaren den
Schrecken der letzten Schlacht der Stadt“
betitelt die britische „Independent“ die Exhumierung von bisher über 1500 Leichen in Massengräbern
im „Panorama Park“, einer früheren „grünen Oase“ in der nordsyrischen Stadt am Euphrat 6.
Von Mitte 2013 bis Oktober 2017 war die rund 200.000 Einwohner (2010) zählende Stadt neben
Mossul die größte Stadt unter der Kontrolle des Islamischen Staats und wurde als deren
„inoffizielle Hauptstadt“ bezeichnet.
„Aber im Juni war die Stadt vollständig
belagert. In den folgenden Monaten entfesselte
die US-geführte Koalition eine verheerende Bombenoffensive, bei der Massen
von Zivilisten getötet wurden. ISIS Kämpfer gebrauchten Zivilisten als menschliche Schutzschilder.
Viele starben im Kreuzfeuer.
„Diese Menschen waren gefangen,“ sagt Ahmed,
während sein Team weitergräbt.
„ISIS hinderte jeden daran, die Stadt zu verlassen und die Koalition bombardierte alles.
Sie hatten keine andere Wahl als hier zu sterben.“
Als die Leichen sich türmten und die Stadt von
Kämpfen beherrscht war, hatten die Lebenden
keinen Ort mehr, um ihre Toten zu begraben. Panorama Park wurde der Hauptfriedhof für Zivilisten
und Kämpfer gleichermaßen.
Offizielle Schätzungen sprechen von rund 1.500
hier begrabenen Menschen.
Von den bisher geborgenen Toten ist die überwältigende Mehrheit, rund 80 % Zivilisten,
zumeist Frauen und Kinder, rund 20 % sind ISIS-Kämpfer. ...
Die US, die rund 90 % der Luftangriffe auf die
Stadt ausführte, hat mehrmals die Art verteidigt,
mit der diese Schlacht gewonnen wurde. General Stephen Townsend, der frühere Anführer
der Koalition, die gebildet wurde, um ISIS zu besiegen sagte, dass da
„die dringende Notwendigkeit bestand“, die Stadt einzunehmen, weil die Terroristen sie als
eine Basis nutzten, um Angriffe auf den Westen zu planen. „Die Anzahl ziviler Opfer wurde
verschlimmert dadurch, dass ISIS die Menschen als Schutzschilde nutzte““. 6
Vor den Angriffen nun von syrischen
Regierungseinheiten und verbündeten russischen Truppen
auf das rund 165.000 Einwohner zählende, weiter im Nordwesten Syriens Richtung Mittelmeer
gelegene Idlib haben westliche Presseorgane überwiegend vehement vor solchen
Bombardierungen und den folgenden „Kollateralschäden“ unter Zivilisten gewarnt.
„Bei der Schaffung einer demilitarisierten Zone
um die Stadt Idlib seien bereits
"wichtige Fortschritte" erreicht worden, sagte Merkel. Es gebe eine "große Verpflichtung,
dass weitere humanitäre Katastrophen nicht passieren". ...
Die Türkei und Russland hatten am 17. September
in Sotschi eine Vereinbarung getroffen,
um eine Offensive der Truppen Assads auf die Provinz Idlib abzuwenden. Sie sieht eine
entmilitarisierte Zone um die Provinz vor, die von türkischen Soldaten und russischen
Militärpolizisten kontrolliert wird. Zuletzt wurde jedoch eine erneute Zunahme der Gewalt verzeichnet.“ 7
Zum Jemen fordert nach dem Kashoggi-Mord und der sich abzeichnenden „größten humanitären
Katastrophe unserer Zeit“ selbst die sonst zuletzt allzu häufig linientreue Washington Post:
„Um Jemen zu retten, müssen die US jegliche Unterstützung der von den Saudis
geführten Koalition beenden“ 8
Und selbst die staatliche US-Nachrichtenagentur AP titelt in Anbetracht des
aussichtslosen längsten Einsatzes US-amerikanischer Truppen in einem „asymmetrischen Krieg“:
„Nach 17 Jahren machen viele Afghanen die US für einen niemals endenden Krieg verantwortlich“. 9
Forbes verdeutlicht dies zudem mit der Infografik unter dem Titel:
„Die US haben niemals so viele Bomben auf Afghanistan abgeworfen wie 2018“. 10
Anti-War.com zitiert zu allem Überfluss dann auch eine Studie der renommierten Brown University
in Providence, Rhode Island, wo gesagt wird, dass die US 5,9 Billionen Dollar (rund 5,2 Billionen Euro)
für ihre Kriege seit 2001 ausgegeben haben. Und im Untertitel wird da auch auf die
zu erwartenden steigenden Behandlungskosten für Veteranen hingewiesen. 11
Der frühere CIA-Analytiker Ray McGovern schildert dann auch deutlich, welche Lücken
der frühere CIA-Chef Clapper in seinem Buch zu den „Massenvernichtungswaffen“
als Angriffsgrund gegen den Irak 2003 aufweist.
Auch im Hinblick auf heutige „anti-russische Rhetorik“. 12
Wer hat den Krieg begonnen? Diese Frage war beim 1. und beim 2. Weltkrieg
leichter zu beantworten als heute. Dennoch zeichnet sich ganz deutlich ab:
nur gemeinsam können wir uns da heraus retten. Nur klug, besonnen und ehrlich
können weitere Greuel und weitere Eskalationen abgewandt werden.
Davon scheinen insbesondere der Westen und seine Partner noch weit entfernt zu sein.
Aber die Zeichen sind untrüglich. Wir sollten ihnen allmählich Druck machen.
Auch dazu, endlich wirklich „Fluchtursachen zu bekämpfen“ und gemeinsam
Aufbauprogramme auf den Weg zu bringen.
Vielen Dank einmal mehr an Sava Stomporowski und Manfred Hulverscheidt.
Anmerkungen:
3) „Tötet den botschafter“? (20. Nov. 2018)
WikiLeaks-Gründer Julian Assange hat wahrscheinlich mehr geheimes Material
zur Entlarvung der US und ihrer (Kriegs-)Verbrechen und westlicher Vertuschungs-
und Propagandaschlachten allgemein ans Tageslicht gebracht als jeder andere.
Eine der letzten Amtstaten Barack Obamas als US-Präsident war ja die Begnadigung
seiner „Mittäterin“ Chelsea Manning im Frühjahr 2017, die als damaliger Angehöriger
der US-Streitkräfte und IT-Spezialist*in im Irak Bradley Manning 2009 / 10 WikiLeaks
viele geheime Informationen über den Irak- und Afghanistankrieg zugespielt hatte.
Nun aber häufen sich die Hinweise, dass man Julian Assange, der fast 7 Jahre lang
Schutz in der ecuadorianischen Botschaft in London fand,
„in Ketten in die US bringen“ will.
Das behauptet auch CIA-Whistleblower John Kiriakou, der zwei Jahre im Gefängnis
verbrachte, weil er den Gebrauch von Folter von Seiten der CIA öffentlich machte:
„Wir alle wissen, warum die Briten die Botschaft belagert haben. Man will ihn schnell
ergreifen und den US ausliefern. Wenn das passiert, dann werden CIA und FBI beide
an Bord des Flugzeugs sein und werden auf dem ganzen Flug nach Hause versuchen,
ihn zu befragen. Sie werden ihn in Ketten zurück in die US bringen, nichts anderes.“ 13
Aufgrund der Tatsache, dass sich viele demokratische wie republikanische Abgeordnete
in Senat und Repräsentantenhaus gleichermaßen einig sind, dass man Assange
in den US wahrscheinlich des Hochverrats überführen will, befürchtet auch
Menschenrechtsaktivistin Suzie Dawson Folter und mehr für ihn:
„Letztlich wollen sie (die Sicherheits- und Intelligenzdienste) ihn bestrafen dafür,
ihre Korruption und ihre Verbrechen ans Tageslicht gebracht zu haben. Sie haben acht Jahre
darauf gewartet und sie werden sich voller Freude die Hände reiben,
wenn das UK ihn verhaftet und dann in die US überführt.“ 13
Im allgemeinen Chaos des baldigen Brexit im UK und der Amtsführung im Weißen Haus
durch Trump wird von vielen Seiten denn auch schon ein baldiger „Vollzug“ noch diesen
Winter erwartet. Oder besser: befürchtet.
Die Anklagepunkte der US-Behörden selbst bleiben eher im Dunkeln, wie auch die
südafrikanische „Business Day“ titelt: „Strafverfolgung gegen Julian Assange von
US-Gericht eingeleitet. Aber es ist unklar, für welches Delikt“. 14
„Information Clearing House“ berichtet denn auch unter der Überschrift:
„Trump befiehlt heimlich die Auslöschung von Assange“: „Wie auch immer, nun wissen wir,
dass ‚die Tatsache, dass Assange beschuldigt wird’ und dass die US-Regierung einfach wartet,
‚bis Assange verhaftet wird in Verbindung mit den Anschuldigungen und einer Strafanzeige
und so nicht länger der Verhaftung und Auslieferung entkommen kann’, ein klarer,
öffentlicher Hinweis darauf ist, dass die geheimen Vereinbarungen zwischen
Trump’s Vize Pence und dem derzeitigen Präsidenten von Ecuador die Auslieferung
von Assange in US-Gewahrsam aus strafrechtlichen Gründen bedeuten, wenn Assange
vorher nicht in der ecuadorianischen Botschaft schon stirbt.“ 15
Wird Julian Assange also zum „Bauernopfer“ im „Trumpismus“, in dem es ja
neben der Deutungshoheit von „Fake-News“ und „Anti-Fake-News“ auch um die
Verschleierung von Unfähigkeiten der starren Maschinerien eines im Einsturz
befindlichen Systems zur „politischen Lösung staatlicher und gesellschaftlicher
Probleme“ geht?
Diese Artikel hatte ich alle schon ausgewertet, als die „Nachdenkseiten“ einen von
Josefa Zimmermann übersetzten Artikel von Chris Hedges brachten, wo gerade
auch dieser in diesen Tagen nach seiner „America Abschiedstour“ überaus aktive
Journalist deutlich Stellung bezieht und vor allem auch Julian Assanges Mutter
zu Worte kommen lässt.
Die barbarische Natur des Theaters, das man da um das Leben des
„Botschafters“ Julian Assange macht, bedarf dringendst mehr Öffentlichkeit.
Der Fall Kashoggi: Chris Hedges hatte andernorts schon einmal betont, dass er
den kritischen saudischen Journalisten noch aus seiner Zeit als Kriegsreporter
im Nahen Osten persönlich kannte. Trump sprach ja auch später in seiner
unnachahmlichen Art von „Dummheit der Saudis“, die den Mord ja kaum
wirklich vertuschten.
Will man nun Julian Assange, wie seine Mutter sagt, „foltern“ oder gar „hinrichten“,
das Ganze aber möglichst „diskret“ abwickeln? Will man sein Menschenleben gegen die
vielen Kriegsopfer ausspielen, besser diese einmal mehr überspielen? Denn der Mord
an Kashoggi war ja auch eine Tat, die völlig unverfroren die Unangreifbarkeit der Saudis
oder anderer Kriegsparteien darstellen sollte. Und: alle Kritiker sollten so eingeschüchtert
und mundtot gemacht werden.
Will man nun mit Assange von westlicher Seite ein ähnliches Exempel statuieren?
Die „Leitmedien“ scheinen bisher dazu zu schweigen. Zumal: Der Rufmord am
„Botschafter“ und Übermittler vieler Nachrichten Assange hat ja eine lange Geschichte,
wie Chris Hedges und Julians Mutter auch betonen.
„Kill the messenger!“ – „Tötet den Botschafter!“ Einmal mehr? 16
Zumal: dass die Kriegsmaschine weitergehen muss – ist das der wichtigste Konsens
der „westlichen Wertegemeinschaft“? Ein Kashoggi lenkt von zehntausenden
toten Jemeniten ab. Ein Assange von weiteren Kriegsplänen und völlig
verfahrenen Situationen des Westens?
Denn: Auch die Gegenwehr gegen neue Kriegszüge in Europa wird größer.
Heise / Telepolis schreibt: „Schon 2015 warnten amerikanische Wissenschaftler,
dass die USA auf einen Krieg mit Russland zusteuern könnten“ und zitiert Vorträge von damals:
„John Mearsheimer: Ukraine muss wieder zu einem neutralen Pufferstaat werden! ...
Stephen Cohen: "Ich fürchte, wir treiben auf einen Krieg mit Russland zu!" 17
Aber vielleicht geht es Trump ja auch um einen „ungeordneten Rückzug“, den er
außer mit viel Fanfarengeschmetter und Gezwitscher auf allen Rängen des Theaters
und vor und hinter der Bühne ohne Gesichtsverlust kaum bewerkstelligen können wird.
Und den Partnern im UK ist zudem jede Ablenkung von ihrem eigenen Brexit Desaster
ja auch sehr willkommen. 18
Ein gut inszenierter Streit um Julian Assange kann allen Akteuren da wieder
einige Luft verschaffen. Eine Begnadigung durch Trump dann nach viel Theater würde
den Präsidenten gar als „Wohltäter“ erscheinen lassen. „So mühsam“, wie er sich
„gegen alle Widerstände“ dazu durchringen würde?
Und auch auf dem europäischen Kontinent gilt es, den Plebs abzulenken und
Luft zu holen. Auch da liegen genügend zertrümmerte Requisiten auf der Bühne,
die man vor dem nächsten Akt erst einmal „diskret entsorgen“ muss.
Denn „Deutschland und Frankreich einigen sich auf Eurozonenbudget -
Frankreichs Präsident Macron fordert einen gemeinsamen Haushalt für alle
Staaten der Eurozone. Jetzt gibt es einen Durchbruch.
Der konkrete Plan liegt dem SPIEGEL vor.“ 19
Eine solche „Baustelle“ inmitten all der Trümmer gilt es „unter gegeben Umständen“
höchst diskret zu eröffnen. Was auch immer „der Spiegel“ da vor- und wiedergibt.
In dem einsturzgefährdeten Theater da, in dem es primär darum geht, vom
nahenden Zusammenbruch des Gebäudes abzulenken. Mit heißem Leim
und kalten Nägeln ein bisschen Pinselsanierung zu betreiben.
Und das Blut unliebsamer Leute, die man einerseits möglichst diskret entsorgen will.
Andererseits: Das Leiden, der zur Schau gestellte Tod Julian Assanges, dem ein
langer Rufmord vorangeht. Dem Plebs auf den Rängen zum Fraß vorgeworfen
in dieser spätrömischen Dekadenz:
„Ach der! Der hatte ja auch genug Dreck am Stecken!“
Insofern ist die Zustimmung für den nach unten gerichteten Daumen
der Herrschenden ja gesichert.
Bleibt die Frage: Sind wir da besser als saudische Botschaftsmörder?
Anmerkungen:
4) „Migration“ und „der Boden unter den Füßen“ (21. Nov. 2018)
Zum UN-Migrationsabkommen hat Norbert Häring schon einige viel beachtete Blogposts verfasst.
Die öffentlich-rechtlichen Medien haben weniger informiert und diskutiert auch über Sätze wie:
„Wir verpflichten uns, Wege für reguläre Migration so anzupassen, dass Arbeitsmobilität
gefördert wird (…) indem wir die Verfügbarkeit solcher Wege erweitern und diversifizieren.“ 20
In einem Post weist Häring auch auf einen prägnanten Artikel aus den Reihen der
gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung hin mit dem Resümee:
„Eine erfolgreiche Einwanderungspolitik braucht also strikte Regeln, die auf qualifizierte Fachkräfte
zugeschnitten sind. Eine ersatzlose Streichung der Positivliste und die Einwanderung zur
Arbeitsuche sind daher unbrauchbar. Die Einwanderungspolitik darf nicht dem Erhalt des
Niedriglohnsektors dienen.“ 21
Die Fragen, was da von Seiten der Unternehmer / Arbeitgeber GEPLANT und was GEWOLLT ist,
wo also „Steuerungsvorgänge“ greifen sollen und wo es eher darum zu gehen scheint,
„Strukturdefizite in Niedriglohnsektoren“ von „Zentrum = Migrationsziele“ und
„Peripherie = Abwanderungsorte“ anzugleichen:
diese Fragen können so kaum beantwortet werden.
Die Erfahrung jedoch in den letzten Dekaden zeigt, dass es eher global um
„freie Ortswahl für freie Bürger“ geht. Was da nun wirklich deutlich zu hinterfragen ist.
Wird da durch den UN-Migrationspakt weltweite Ungleichheit verwaltet? 22
Der Aussage von Andreas Heil:
„Aber der "Migrationspakt" verwischt das Thema ja auch in gewohnter Manier zwischen häufig
temporären Kriegsflüchtlingen, politischen und Wirtschaftsflüchtlingen sowie Arbeitsmigration.“
steht dann eine Aussage wie die Michael Wendl’s: „Habe einige Manager gehört, die von der
Arbeitsmotivation von Flüchtlingen geschwärmt haben, trotzdem haben sie die Migration nicht geplant.“
unversöhnlich gegenüber.
Widersprüche aller Art bleiben unaufgelöst.
Unter gegebenen Umständen drängt sich der Verdacht auf, dass so auch gewaltige Umbrüche
und globale Verwerfungen einfach überrannt werden sollen.
„Was dem heftigen Einfordern günstiger Geldüberweisungsmöglichkeiten widerspricht und
freilich im Pakt nicht zur Sprache kommt, ist eine ganze Reihe von UN-Embargos, die häufig
und regelmäßig den freien Zahlungsverkehr zwischen Zentralräumen und peripheren Ländern
unterbinden. So waren es Anfang der 1990er Jahre aus unterschiedlichen Gründen UN-Embargos
gegen Jugoslawien, den Irak und Libyen, die ganze Volkswirtschaften vom internationalen
Zahlungsverkehr (und nicht nur von diesem) abschnitten. Insbesondere die serbischen/
jugoslawischen Gastarbeiter litten darunter. Die USA wiederum belegen zur Zeit
gut zwei Dutzend Staaten mit Wirtschaftssanktionen, die ähnliche Effekte haben.
Der gewünschte freie und ungehinderte Zahlungsverkehr für MigrantInnen scheitert
also in vielen Ländern an Zwangsmaßnahmen, die meist aus geopolitischen Gründen
erlassen werden, ohne von der UNO kritisiert zu werden, wenn sie diese nicht sogar unterstützt.“ 22
Zum Disput zwischen Michael Wendl und Andreas Heil oben kann ich einige Fälle aus
meiner persönlichen Erfahrung aus Afghanistan 2009 / 10 beisteuern:
Zwei „meiner“ jungen Ingenieure, mit denen ich dort in Kabul gearbeitet habe, haben sicher
in den US hoch motiviert angefangen. Überaus kluge, großartige Team-Arbeiter.
Aber warum müssen sie 17 Jahre nach Niederschlagung der Taliban nun im Exil leben
und arbeiten mit ihren Familien? „Fluchtursachen bekämpfen?“ 23
Einer meiner besten Freunde aus Afghanistan gehört auch zu den klügsten Menschen,
die ich überhaupt je kennenlernen durfte in meinem Leben. In Kabul hatte er Medizin studiert.
Aufgrund von Korruption und „Vetternwirtschaft“ und seiner sozialen Herkunft aus einer eher
einfachen und mittellosen Familie konnte er dort nie praktizieren und verdingte sich als
Übersetzer für „Nicht-Regierungs-Organisationen“. Vor kurzem sagte er mir, dass er seit 2016
in den US lebt mit Familie und nun einen Fabrikjob bekleidet. Sein sozialer Abstieg geht also
auch im Exil weiter. „They hijacked my religion! – sie haben meine Religion geraubt und entführt!“
sagte er immer in Kabul. Und das bezog er auf die Taliban. Vielleicht aber auch inzwischen
auf die US und „die westliche Wertegemeinschaft“?
„Migration als Chance“? Da scheint Hannes Hofbauer wohl doch Recht zu haben: 22
Die „Privatisierung von Flucht und Migration“ verwehrt auch
„solidarischer Arbeit an den Ursachen“ den Weg.
Was ist also hier „seriöse Sozialwissenschaft“?
Oder, um es mit den Worten Andreas Heils widerzugeben:
„Der Gegenstand ist TTIP für Humankapital und die Aufgabe die vollständige
Unterwerfung globaler "flows" (Barnett) unter marktradikale Erfordernisse.“
Gibt es Lösungsmöglichkeiten für das lange bekannte Problem der explodierenden Grundstückspreise
in „boomenden Städten“ in Deutschland? Wenn der Vorstandsvorsitzende des Hamburger
Mietervereins sagt:
„30 Prozent werden sich (bald) ihre Miete nicht mehr leisten können“ – scheinbar nicht, oder? 24
Bei jedem Wahlkampf in den letzten 10 Jahren wird die Sau „bezahlbarer Wohnraum“ durchs Dorf
getrieben. „Mietpreisbremsen“? = Kuschelprogramme im Raubtierkäfig „freier Märkte“.
Komischerweise findet man diejenigen, die solche Streicheleinheiten für hungrige Karnivoren
verordnen wohl kaum bei den niedlichen Fellknäueln mit den scharfen Zähnen, sondern nur in
sicheren Bereichen außerhalb der Manege. Und wer streitet sich da um die Defizite bei der
Performance bei Erstellung von
„bezahlbarem Wohnraum“ und anderen „Sanierungsstaus“?
Migranten und Einheimische, die da in der Manege versuchen müssen, irgendwie
Schutzräume für sich und die Familie zu ergattern.
Und in Dortmund greift inzwischen das Ordnungsamt Nackten in die Tasche und verteilt
20 €-Knöllchen an Obdachlose. Geht’s noch? 25
Die Grünen im Aufwind: „Robert Habeck will Hartz IV ersetzen“ 26
Ein kurzer Testballon. Heftigste Gegenwehr von anderen Systemverwaltern
aus Groko und Opposition: Aus die Maus. Peng. Basta.
Dieselgate, Cum-ex usw. usf.: Alles auf den kleinen Mann und seine Frau abgewälzt.
Fahrverbote in Innenstädten für Diesel schädigen am meisten kleine und mittelständische
Handwerksbetriebe. Und: gutes Handwerk brauchen wir.
Statt dessen scheint’s aber einen Überhang an „white collars“ gegenüber „blue collars“
auf dem Bau zu geben. Auf allen Ebenen. Also: Wie jetzt?
Und auch da treffen Migranten und Flüchtlinge und Einheimische aufeinander
in der Manege: in Europas größtem Niedriglohnsektor.
Dann „differenziert“ aber die Bundesregierung.
„Migration“ und „Flucht“ sind ja in ganz verschiedenen „Regelwerken“ geregelt, sagt man.
Aus dem sicheren Rückraum der Verwaltungsbürokratie heraus schön und gut.
Wie sehen aber die Realitäten außerhalb solcher gesicherter Rückräume aus? 27
Hartz IV: „Arbeit und Leistung“ – die gewohnten Beleidigungen für den Plebs von
Seiten von Vollzugsbeamten im stetigen Diätenerhöhungskonsens dann sofort nach
Habecks Vorstoß. Da ist plötzlich wieder alles gleich.
„Das Volk schreit nach Brot? Sollen sie doch Kuchen essen!“
War zwar jemand anderes, die das gesagt haben soll, aber passt schon.
„Viel Rauch um nichts“. Etwas Rauch um die Nase und die Sinne könnte den Frau- und
Herrschaften vielleicht manchen Blick auf diverse Dinge aufweiten.
Weihrauch natürlich. 28
„Die Mutter des Migrationspakts“, die UN-Migrationsbeauftragte Louise Arbour, die da
„Angela Merkel helfen“ will, wird porträtiert. 29
Also doch ein unmittelbarer Zusammenhang zur „deutschen Flüchtlingskrise 2015“?
Auch dazu kann ich Erfahrungswerte beisteuern: 2013 erhielt ich über mehrere Ecken
eine Anfrage von einem jungen Afghanen, der für die Bundeswehr als Übersetzer gearbeitet hatte.
Sein Vater war von Taliban ermordet worden. Der selbst gerade Vater gewordene junge Mann
hatte sich von seiner Familie abgesetzt, um diese zu schützen und hoffte, in Deutschland Asyl
beantragen zu können und so Frau und Kind nachholen zu können. Ich fragte also bei
einem deutschen Entwicklungsarbeiter nach, der schon über 40 Jahre in Afghanistan lebt
und arbeitet, ob er ihn bei deutschen Behörden, Konsulat und Botschaft dort unterstützen könne.
Der gute Mann antwortete mir, dass selbst er keinen Zugang mehr zu diesen Festungen habe.
„Globalisierung“ bleibt so ein imperiales Spiel. Für die Trümmer,
den „Schwund“ dabei sind die jeweiligen unteren Kasten selbst
verantwortlich. Jede(r) gegen Jede(n) heißt es da in der Arena. D
Das imperiale Spiel muss ja weitergehen!
„Der Mensch bleibt dem Menschen ein Wolf -
Die gespaltene deutsche Gesellschaft steht sich zunehmend hasserfüllt gegenüber.
Wer sich fragt, warum, kommt an der Natur des Menschen nicht vorbei. Aber
sie lässt sich kultivieren.“ überschreibt Markus C. Schulte von Drach ein Essay. 30
„Die Ästhetik des Widerstands“ beschreibt aber auch die Schönheit des Kampfes.
Der Stolz kämpferischer Kulturen und das Paradoxon ihrer Schönheit schließen
dabei einander nicht aus. Bei „Kampfsport“ handelt es sich ja auch um
„martial arts – Kampfkünste“.
Der Text von Schulte von Drach beschreibt insofern nur einen Teil der Wahrheit.
"Folgen der Globalisierung und des Neoliberalismus stärker kontrollieren" - im letzten Satz
als kleine "Forderung" ist wirklich lächerlich. Auch der Autor da lebt in seiner mitten drin
zitierten "Filterblase" und realisiert nicht, was es heißt, wenn den Menschen gleich welcher
sozialen und ethnischen Herkunft „der Boden unter den Füßen weg gezogen“ wird.
Mit "Kontrolle" dieser Erosionen" geht da gar nichts. Denn die Themen "Angst" und "Vertrauen"
betrachtet der Autor auch nur aus der Ferne. Oder: er tippt sie nur an. Mehr nicht.
Partnerschaft und Solidarität sind möglich. Auf allen Ebenen.
Verwaltung von staatlicher bis kommunaler Macht und ihre Organe verfolgen immer
offensichtlicher die Ärmsten und Schwächsten. Und liefern diese ständig ans Messer.
Bei organisierter Kriminalität und den Schnittstellen von „Finanzwirtschaften“ und
„Schattenwirtschaften“ drückt man jedoch alle Augen zu.
„Pecunia non olet – Geld stinkt nicht!“: Ganz gleich, ob Friedrich Merz es sich „ehrlich“
mit Blackrock verdient hat und nun als Türsteher für den CDU-Parteivorsitz parat steht
oder ob es sich um „wirkliche Mafia-Gelder“ handelt. 31
Wirkliche handfeste Debatten zum UN-Migrationspakt scheinen die „Oberaufseher der
Verwaltung von staatlicher bis kommunaler Macht“ in Berlin in Kanzler- und Außenamt
zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Einmal mehr.
Auch die darunter liegenden Ebenen der Exekutive, die die Scherben aufzulesen haben:
mutige und würdige Amtsträger wie der Hamburger Kriminalkommissar Jan Reineke,
der da in der ja eigentlich gar nicht subversiven „Hamburger Morgenpost“ beim
„Kampf gegen die Mafia brutal ehrlich abrechnet“ 31, sollten endlich wieder Anknüpfungspunkte
für Reformen von „Links von der Mitte“ erhalten. Und mit ihrer berechtigten Kritik gegen
das Establishment und sein „willfähriges Vollstreckertum“ von uns nicht alleine gelassen werden.
Das derzeitige politische Schmierentheater erfordert neue Akteure auf der Bühne.
Und viele gute Handwerker. Neben einem Plan zu Sanierung, Wiederaufbau
und Erweiterung des baufälligen Hauses.
„Gute Arbeit leisten heißt neugierig sein,
forschen und aus Unklarheiten lernen“
, wie der US-Soziologe Richard Sennett in „Handwerk“ 32 eben das –
gutes Handwerk beschreibt. 33
Zusammenarbeit ist alles. Vertrauen und Sicherheit dafür sind möglich.
Auch zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“.
Norden und Süden, Westen und Osten.
Auf allen Ebenen.
Anmerkungen:
20. http://norberthaering.de/de/27-german/news/1051-migration-ard-zdf
23. https://nachdenken-in-muenchen.de/?p=4490
26. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-11/die-gruenen-robert-habeck-abschaffung-hartz-iv
und für die des Italienischen Mächtigen: einmal mehr ein Artikel über diese
„Schnittstellen“ von Petra Reski in derRepubblica:
32. https://www.perlentaucher.de/buch/richard-sennett/handwerk.html
33. https://www.stefanfrischauf.com/heimat-zu-hause-in-europa-10-2018/buch-2-fragment-fraktal/